Die Mauer fiel – und es roch nach Kuchen

Sarah Fichtner

Illustration Ashbee Wong

Ich war 10 Jahre alt, als die Mauer fiel. Die Mauer, die meine Heimatstadt teilte und die künstliche „Insel“ Westberlin schuf. Ich erinnere mich, wie ich am 10. November 1989 mit meinen Eltern, meiner besten Freundin Susi und unseren Brüdern auf die Mauer kletterte. Ich hatte Angst herunter zu fallen. Es war sehr hoch. Aber die Freude und Aufregung, die sich zwischen den Menschen um uns herum ausbreitete, ließ mich die Höhe vergessen.

In meiner Erinnerung riecht der Fall der Berliner Mauer nach frisch gebackenem Butterkuchen, den meine Mutter Fremden anbot, die in unserer Küche saßen. Sie unterhielten sich mit meinen Eltern und tranken Jacobs Krönung Kaffee. Ich mochte den Kuchen – und ich hörte gern den Fremden zu. Sie hatten einen anderen Dialekt. Die Mauer war gefallen und sie waren von der anderen Seite. Neugierde knisterte in der Luft. Und es gab so vieles mitzuteilen und zu teilen.

30 Jahre später erklärte mir meine Mutter, dass sie nach dem 9. November 1989 ein paar Wochen lang fast jeden Tag einen Kuchen gebacken hatte. Sie erwartete, dass einige entfernte Verwandte aus Dresden, zu denen sie den Kontakt verloren hatte, bei uns auftauchen würden. Da sie nie kamen und mein Vater es satt hatte, den Kuchen nur mit uns zu essen, ging er auf die Straße und lud freundlich aussehende Besucher aus dem „Osten“ zu Kaffee und Kuchen in unsere Küche ein.

© Ashbee Wong – https://www.theoddlittleworld.com