Die ‚wunderschöne Berlinkrankheit’ oder Reflexionen über den Workshop ‚Eine Einführung in die Kunst des Storytellings’

von Pinar Ozutemiz

Foto von Alvaro Martínez

Bitte beachte, dass 2020 ein weiterer Storytelling Workshop mit Pinar Ozutemiz stattfinden wird. Mehr Infos findest Du auf unserem Veranstaltungskalender! Sichere Dir schon jetzt Deinen Platz: contact-english@encounter-blog.com

Die Stadt Berlin – die wir alle insgeheim so sehr lieben – kann einen durch ihren schnelllebigen, isolierenden, entfremdeten, online-offline und stressigen postmodernen Lebensstil sehr schnell enttäuschen.

Manchmal haben wir das Gefühl, dass unsere Träume gerade einfach nur für eine Weile eine Pause einlegen. Oder wir beginnen sogar zu denken, dass diese Träume nie wahr werden können; deshalb entscheiden wir uns dazu uns ein schönes neues Tattoo zu holen, bevor wir zu alt werden und so zumindest cooler aussehen!

Oder wir wünschen uns am Ende eines durchfeierten Abends am Wochenende, dass die Idee einer unendlichen Liebe Wirklichkeit werden sollte… Aber es scheint so, als ob sogar die Liebe die ‚wunderschöne Berlinkrankheit’ nicht überleben könnte. Und es interessiert einfach niemanden! Vielleicht sind die meisten in der großen Stadt einfach zu beschäftigt oder haben die Nase voll von Beziehungen. Es ist einfach so einsam. Und es ist einfach so verdammt kalt!

Für mich persönlich gibt es Momente, in denen ich mich nicht richtig in der deutschen Sprache ausdrücken kann, und das obwohl ich schon über vier Jahre in dieser Stadt lebe! Aber naja, es läuft damit einfach nicht so gut! Akzeptanz ist bekanntlich der erste Schritt zur Besserung. Positiv denken und an der Sprache arbeiten, um bald besser zu sprechen! Aber trotzdem… habe ich denn im Moment überhaupt die Motivation dafür? Bei so einer Stimmung ist es doch irgendwie normal, sich irgendwie ‚traurig’ zu fühlen, oder? Nun gut, vielleicht ist es Zeit für einen Winterschlaf.

Aber die Sache ist die: Wenn ich mir jeden Tag solche Geschichten erzähle, dann werde ich doch wahrscheinlich irgendwann auch zu einer dieser Geschichten werden, oder? Und wäre das nicht traurig? Wie kann ich das also ändern? Wie kann ich diese Geschichten, die ich mir jeden Tag erzähle, verändern? Geht das?

Auf solche Fragen hatte ich lange gewartet… Ich stellte sie mir eine Zeit lang immer und immer wieder.

Und so kam ich Ende 2014 in Istanbul zu einer der ältesten Kunstformen, zu der Kunst des mündlichen Geschichtenerzählens als eine zeitgenössische Performancekunst. Es handelt sich dabei um eine mündliche Interaktionskunst, die mithilfe von Worten und Aktionen die Bilder einer Geschichte darstellt und gleichzeitig die Vorstellungskraft des Zuhörers anregt. So einfach ist das! Seitdem fing ich an die Welt der Geschichten, Mythen, Volksgeschichten, Märchen und fantastischen Geschichten zu erkunden und erkannte ihre Macht zur Phantasieförderung, dank der zeitlosen Symbolsprache.

Ich meine, bitte versteht mich nicht falsch, ich habe auch noch nie einen Drachen gesehen. Natürlich nicht im wahren Leben, aber ich weiß genau, wie ich mit ihnen umgehen müsste, wenn es sich darum handelt eine Geschichte zum Leben zu erwecken – oder ein ‚Drache’ zu werden, wenn es darum geht, ein Ziel zu erreichen. In diesem Sinne, kann eine Geschichte, die detailreich und gefühlsgeladen genug erzählt wird, um real zu wirken, auch die Emotionen und Hoffnungen des Publikums stimulieren. Sie lässt eine neue Realität entstehen. Kurz gesagt finde ich es einfach sehr inspirierend, zu sehen, wie das Geschichtenerzählen mich auf eine schönere Weise bewusster, fokussierter, kreativer und extrovertierter werden lässt.

Nach fünf Jahren meiner Storytelling-Reise wurde es zu meiner ‚geheimen Mission’, diese Kenntnisse mit anderen zu teilen. Während ich den Workshop „Eine Einführung in die Kunst des Storytelling“ vorbereitete – und ich agierte zum ersten Mal in meinem Leben als Workshopleiterin –wollte ich den ‚geschäftigen Berlinern’ Zeit und Raum anbieten, wo sie ihren inneren Storyteller treffen konnten.

Die folgenden Worte von Muriel Rukeyser waren das Motto meines Workshops:

„Das Universum ist aus Geschichten gemacht, nicht aus Atomen“

An dem Workshop nahmen 12 bis 15 Teilnehmer*innen mit sehr unterschiedlichen Hintergründen in einem Alter von 22 bis 65 teil. Ich konnte mit eigenen Augen beobachten, wie Geschichten innerhalb der Gruppe eine intime Verbindung schufen. Es kreierte ein natürliches Hin und Her von Vertrauen und Offenheit für Leute, die sich vorher nicht kannten oder sich nicht verbunden fühlten. Im Workshop wurden unterschiedliche Methoden zum Geschichtenerzählen angewandt wie Improvisation, Spiele, visuelle Techniken, Meditation, Tagebuchschreiben, Reflexion, Partnerarbeit und Gruppendiskussionen.

Meine Absicht war es, eine ehrliche und reale Atmosphäre in einem Workshop zu schaffen, wo Teilnehmer*innen sich begegnen konnten und beginnen konnten, sich zu hinterfragen, zu träumen, sich zu verbinden und durch Geschichten lebendig zu werden. Und das passierte wirklich! Es hat mich wirklich stolz gemacht zu sehen, wie Leute sich öffneten, spielerisch und fokussiert arbeiteten, kreativ agierten und anfingen, Geschichten mit ihrer eigenen Authentizität zu erzählen. Durch diese Inspiration konnte sogar der schüchternste Teilnehmer am Ende des Workshops seine Geschichte frei erzählen.

Es bleibt der Fakt: Storytelling wird zwar nicht dein ganzes Leben in einem einzigen Workshop verändern – auch wenn das doch wirklich toll wäre! –, aber es eröffnet sicher eine neue Tür zu deinem kreativen, authentischen und immer dagewesenen inneren Selbst. Viele betrachten das Geschichtenerzählen als eine lustige Aktivität für Kinder, etwas, das man gelegentlich mal macht.

Es ist aber doch viel mehr als das, nämlich ein magisches Werkzeug, das Erwachsene neugieriger, und ihren eigenen Sinnen gegenüber offener macht. Es hilft ihnen die Gegenwart zu erleben und sich in unserem schnelllebigen Großstadtleben als ‚Ganzes’ zu fühlen. Es kann auch helfen, die Geschichten zu verändern, die wir uns selbst jeden Tag selbst erzählen!

Der Workshop hat mir gezeigt, dass das Storytelling uns dabei helfen kann, uns selbst wieder zu entdecken und uns wieder lebendiger zu fühlen. Beispielsweise entdeckten einige Teilnehmer*innen ihr inneres Kind und merkten, wie wichtig es ihnen war, mit seiner Stimme zu sprechen, was schon sooo lange notwendig war. Andere verbanden sich mit ihrer starken ‚weiblichen’ Seite, die sich nicht mehr davor fürchtete eine Geschichte auf Deutsch zu erzählen. Manche entdeckten ihren inneren Storyteller, indem sie eine gute Geschichte innerhalb einer grenzenlosen, erfundenen Welt genossen. Andere erfuhren einfach, wie viel Spaß Storytelling machen kann! Und es sieht so aus, als ob sogar geschäftige Berliner sich Zeit nehmen können und wollen, um eine Geschichte zu erzählen oder einer zu lauschen! Ich bin dem Encounters Team für die Chance zum Workshop wirklich sehr dankbar.

Zu guter Letzt, möchte ich hier noch ein Gedicht teilen, das ein Teilnehmer während des Workshops geschrieben hat:

*Kindheit

‚In das Szenario der Kindheit versetzt werden.

Die Welt erkunden – unschuldig.

Musik lauschen.

Mit Steinen spielen.

Die Welt entdecken.

Etwas erschaffen.

Wasser bewegen.

Verbunden sein.

Und dann – ganz plötzlich – diesen Ort verlassen.

Türen öffnen und schließen sich gnadenlos.

Die Kindheit ist vorbei.

Lichter an!

Wieder ernst sein’