Stimmen in Bewegung – Vierter Teil

Von Ina Schebler

Jede/r hat eine Geschichte. Jede/r hat eine Stimme, um sie zu erzählen. Und jede/r hat Ohren, um sie zu hören oder Augen, um sie zu lesen. Da braucht es nur noch Leute, die den Stimmen zuhören, die Gesichter ansehen und zunächst ihre Perspektive ändern und später die Welt.

Die Idee:

Im Januar 2016 begann ich Geschichten von Menschen zu sammeln, die einst aus ihrer Heimat geflohen sind und die jetzt in Deutschland leben. Sie alle hatten ihre Gründe. Sie alle kamen auf verschiedenen Wegen und endeten an verschiedenen Orten. Sie alle hatten verschiedenste Träume, Erwartungen und Pläne für die Zukunft, als sie ihr Zuhause verließen.

Ich trat diese Reise an, weil ich glaubte, dass Leute, die gezwungen werden ihr Zuhause zu verlassen, nicht nur Flüchtlinge, Asylsuchende, illegale Einwanderer oder Katastrophenopfer sind. Sie sind Menschen mit individuellen Gesichtern und Stimmen, die Geschichten erzählen können.

Also sammelte ich Geschichten von Leuten, die etwas mit der Welt zu teilen haben. Ich schuf diesen Raum aus Worten und Fotos, in dem Stimmen sprechen und Ohren zuhören, Augen sehen und Köpfe verstehen können. Viele dieser Stimmen erzählen Geschichten, die zeigen, dass vieles in dieser Welt einer Veränderung bedarf. Wir alle haben Stimmen und die Fähigkeit, nicht nur unsere Körper von Katastrophen wegzubewegen, sondern auch die Möglichkeit, Horizonte über Konventionen und Vorurteile hinwegzuschieben. Wir können uns mit Stimmen verbinden, uns durch Stimmen verbinden und unsere Stimmen verbinden. Folglich verbinden Stimmen Menschen und vielleicht wird eine der Ideen in einer der Geschichten eines Tages der Funken sein, der die ganze Welt heller macht – wer weiß?

 

Traudl: Freiheit ist eine Pflicht Einmal klopfte es nachts an der Tür, aber bis der Vater bei der Tür war, kam der blutverschmierte Russe schon zum Schlafzimmerfenster herein. „Wo ist Frau? Wo ist Frau?“ hat er gefragt und mich dabei mit seiner Lampe angeleuchtet. Aber ich war erst 10 und so eine dürre Erscheinung, dass er dann zum Glück Ruhe gegeben hat. Meine Mutter war schon hinten raus und hat sich draußen versteckt. Dem einen Tschechen hat meine Mutter mal nicht gehorcht und daraufhin hat er uns angezeigt. Er sagte, wir hätten Waffen und das war ein Todesurteil. Mein Vater konnte gut Tschechisch, weil es im Braunauer Riesengebirge damals üblich war, dass tschechische und deutsche Familien ihre Kinder für einige Zeit austauschten, um die Sprache der anderen zu lernen. Das war unsere Rettung, denn er hat von einem befreundeten Tschechen einen Tipp bekommen, also flohen wir. Ich musste immer unseren Gemüsegarten jäten. Wenn ich vorne angefangen habe und endlich durch war, musste ich wieder vorne beginnen. Ich hatte immer viel Arbeit, aber das ist Heimat. Diese Erlebnisse, diese Erfahrungen, das Umfeld, die Freundinnen, die Schule, der Ort, an dem wir gelebt haben, wie wir Heidelbeeren gesammelt haben. Ich musste nur zum Garten raus und übers Feld in den Wald. Die Landschaft, das ist Heimat. Hier sind wir heimisch, aber Heimat ist da, wo man gerne war als Kind. Das Gefühl da drinnen in der Brust, das ist Heimat. Ich würde sagen, das höchste Gut, das man hat, ist die Freiheit. Sein Schicksal selbst gestalten zu können. Wenn Krieg ist zum Beispiel, dann kann man nicht mehr selber entscheiden, was man will. Im Dritten Reich waren wir auch nicht frei. Da mussten wir den Mund halten, da musste man mitmarschieren. Hier brauch ich ja meinen Mund nicht zu halten. In gewisser Weise schon, denn zu einem gewissen Grad hast du dich auch einzuordnen. Aber das ist nicht so schmerzlich wie in einer Diktatur. Wir sind ja in einer Demokratie, aber viele Leute nutzen diese nicht, weil sie es nie anders erfahren haben. Sie gehen nicht zur Wahl, sie beteiligen sich nicht, sie sind nur auf sich bedacht und alles andere ist ihnen egal. Nur wenn es dann wirklich einmal Einschränkungen gibt, dann schreien sie! Freiheit ist auch eine Verpflichtung. Verpflichtung, mich im Staat so zu verhalten, dass ich ein dienendes Glied für die Gesellschaft bin. Das fängt ja schon mit Nachbarschaftshilfe oder dem Respekt für mein Umfeld an. Man kann nicht nur nehmen, man muss auch geben. Traudl, 80 Jahre alt, in der Tschechoslowakei geboren
Redini: Zu sagen was ich will und wer ich bin Das Gebiet, in dem ich gelebt habe, war kurdisches Gebiet und die arabische Regierung war sehr rassistisch uns gegenüber. Meine Mutter hatte keinen Reisepass oder Ausweis. Die Regierung hat einfach gesagt, Kurden seien fremde Leute, nicht aus Syrien, also geben wir ihnen keinen Pass. Wer keinen Ausweis hat, kann auch nicht an der Universität studieren. Wenn es Streit zwischen Kurden und Arabern gab, kam die Regierung und verhaftete die Kurden und nicht die Araber. 2009, als ich 16 Jahre alt war, war ich mit meinem Bruder und meinem Cousin im Gefängnis, weil wir Kurden sind. Sie haben uns wie Tiere behandelt. Sie haben uns gequält. Sie haben uns geschlagen. Alles hat geblutet und nach dem Foltern zwangen sie uns, auf Salz zu laufen. Wir waren Kinder und haben nichts Verbotenes gemacht. Sie haben uns drei nur auf der Straße gesehen und mitgenommen. Mein Vater kam und hat sie angefleht: „Schlagen Sie die Kinder nicht!“ Er hat viel Geld bezahlt, aber sie haben uns eine Woche lang geschlagen. Das waren Alawiten, die Araber, die die Regierung führen. Der eine Alawit hat einmal seinen Sohn ins Gefängnis mitgebracht, hat ihm gesagt: „Das sind Kurden“ und hat ihm den Schlagstock gegeben. Wir waren nicht die einzigen, sie haben das mit vielen Kindern und jungen Leuten so gemacht in unserer Region. Wenn ich könnte, würde ich alle Grenzen zwischen Ländern abbauen, die schlechte Regierung besiegen und in der Regierung alles verändern. Alle müssen ihre Meinung sagen können. Die europäischen Regierungen sind gute Regierungen, sie behandeln die Leute gut. Sie sind freundlich zu den Leuten, oder? Das habe ich gemerkt. Aber in Syrien hat die Polizei jetzt das Recht zu töten. Wenn ein Polizist einen Menschen tötet, kann er sagen, der war bewaffnet, und nichts wird ihm passieren. Als die Revolution anfing, da habe ich keine Waffe getragen, weil ich niemanden töten wollte. Ich habe nur meine Meinung gesagt: „Ich bin gegen die Regierung.“ Und sie versuchten, uns zu töten. Deshalb bin ich geflohen. Ich will nie eine Waffe tragen, denn niemand weiß, wer unschuldig und wer schuldig, ist. Wer eine Waffe trägt, der tötet auch unschuldige Menschen. Eine Waffe ist keine Lösung, aber die Leute bei uns verstehen das nicht. Freiheit bedeutet alles für mich! Ich konnte nicht sagen, dass ich Kurde bin. Wenn ich eine kurdische Flagge gehabt hätte, wäre ich ins Gefängnis gekommen. Freiheit ist für mich, dass ich alles sagen kann was ich will. Wer ich bin. Warum kann ich nicht sagen wer ich bin und was ich will? Redini, 21 Jahre alt, in Syrien geboren