Ein Tanzvisual von Canan Mona Pour-Norouz

 

Text: Sarah Fichtner & Canan Mona Pour-Norouz

“Wenn wir uns bewegen, bewegen wir andere; wenn wir die Bewegung anderer beobachten – werden wir bewegt.”

(Judith Lynne Hanna, Anthropologin und Autorin von “Dancing to Learn”)

Mona hat mich beeindruckt. Das Tanzvideo und ihre per Email an das Encounter Team gerichteten Worte hatten etwas, das mich sehr berührte. Ich wusste, dass ich sie treffen musste. Man kann es Schicksal, das Suchen nach Antworten für in mir schlummernde Fragen – als Frau, als Akademikerin, als Tänzerin – oder auch Resonanz nennen. In jedem Fall war es mehr als ein Interview, das einen Inhalt in einen Kontext einbetten möchte. Es war eine intensive Begegnung für sich.

 DIE KÜNSTLERIN

„Also, wer ist Mona?“ fragte ich, als wir uns in einem kleinen Café in Berlin Neukölln gegenübersaßen. „Das bin ich“, sagte sie. Wir mussten beide lachen. „Ich bin eine Master-Studierende der Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität und eine angehende Choreographin und Kunstdirektorin“, erklärte sie. „Ich bin eine urbane Tänzerin, die aus dem Hip Hop kommt, aber ich habe diverse Stile intensiv trainiert. Und ich bin 23 Jahre alt.“

„Bist du Berlinerin?“ „Ich sehe mich durchaus als Berlinerin, aber ich bin nicht hier geboren. Witzigerweise versteht sich mein Vater als Berliner, da er zunächst hier gelebt hat, als er nach Deutschland kam. Als geflüchtete Person aus dem Iran konnte er sich aber nicht wirklich aussuchen, wo er bleiben wollte, und musste weiterziehen. Aber Berlin war immer sein zu Hause, meinte er. Ich bin in einer sehr kleinen Stadt in dem Dreiländereck von Deutschland, Frankreich und der Schweiz geboren. Ein relativ konservativer Ort. Als also die Zeit kam, mich zu entscheiden, wo ich studieren wollte, war mein erster Gedanke: Berlin – um da anzuknüpfen, wo mein Vater aufgehört hatte, wenn man so will. So schließt sich der Kreis.“

„Gab es einen Klick-Moment, an dem du wusstest, dass du tanzen wolltest?“ führte ich unsere Konversation fort. „Es gab definitiv einen Klick-Moment. Ich erinnere mich daran, wie ich mit dem Tanzen begann, weil ich einen unglaublichen Drang spürte, mich frei auszudrücken. An einem gewissen Punkt in meinem Leben fühlte ich mich so gefangen in mir selbst und wollte da unbedingt ausbrechen. Ich hatte so vieles zu sagen, so viele Geschichten zu erzählen, wollte so gerne mit Menschen kommunizieren, aber die gängigen Unterhaltungen in meinem Alltag stellten mich nicht mehr zufrieden. So dachte ich mir: Ich möchte eine Plattform haben, in der ich mich furchtlos ausdrücken kann. Ich denke, dass ich, als ich anfing, zu tanzen, schnell realisierte: okay, das ist es. Das ist wirklich eine Möglichkeit, kompromisslos du selbst zu sein. Das Tanzen war endlich etwas, das ich tun konnte, um mich selbst kennenzulernen. Ich war 17 oder 18 und es war eine kritische Phase in meinem Leben.

Das Tanzen und besonders das Kreieren solcher Visuals ist eine Möglichkeit, sich selbst zu ermächtigen, indem man die Entscheidungsgewalt darüber, wie man wahrgenommen wird, zurückfordert… es liegt in deinen Händen

ZANJEER: EINE GESCHICHTE ÜBER DIE SELBSTBEFREIUNG

„Du studierst Politikwissenschaft und du tanzt. Und ich würde sagen, dass dein Tanz auch eine politische Botschaft trägt. Du schriebst ‚Ich kann mich sehr mit der Mentalität des Encounter Magazins identifizieren. Als Deutsch-Iranische Frau bin ich interessiert daran, wie unsere facettenreichen Identitäten unsere Interaktionen mit anderen formen.‘ Wie würdest du die Beziehung zwischen Tanz und Politik in deiner Arbeit beschrieben, oder wie wir es nennen könnten: die Politik der Wahrnehmung?“

„Ich könnte eine Sache nicht ohne die andere bearbeiten; der eine Bereich speist sich sogar aus dem anderen. Die Communities, die ich durch das Tanzen kennenlerne, inspirieren mich, weiterhin an inklusiven, politischen Prozessen zu arbeiten. Ich forsche viel zu Minderheitenrechten und Verfassungspolitik, und bin ohnehin selbst Teil dieser Gemeinschaften. Und anders herum beeinflusst die Politikwissenschaft meine Kunst, da ich durch sie gelernt habe, kritisch zu reflektieren, besonders was identitätspolitische Themen betrifft. Ich denke, dass ich erst meine eigene Identität freischalten muss, bevor ich die Kunst freischalten kann. Aber was genau verstehst du unter einer Politik der Wahrnehmung?“ fragte sie mich zurück.

Ich antwortete: „Als du uns schriebst, dass sich dein Stück auf die Wahrnehmung der Weiblichkeit, des weiblichen Körpers, des Erfolgs und der Schönheit bezieht – was zu dem Kontext, in dem es gefilmt wurde, passt: dem wunderschönen und mächtigen Bode Museum mit all seinem Gold – und schließlich auf die Konzepte der Freiheit und Selbstbefreiung – dem Brechen von Fesseln – , nahm ich diese Bilder als sehr politisch wahr. Ich sah deinen Tanz als ein Medium, uns mit dem politischen Subtext unserer eignen Wahrnehmung zu konfrontieren: wie wir Menschen und Dinge wahrnehmen, wie wir wahrgenommen werden, wie wir wahrgenommen werden möchten und wie wir uns selbst wahrnehmen.“

„Absolut“, sagte Mona. „Das Tanzen und besonders das Kreieren solcher Visuals ist eine Möglichkeit, sich selbst zu ermächtigen, indem man die Entscheidungsgewalt darüber, wie man wahrgenommen wird, zurückfordert… es liegt in deinen Händen. Das Konzeptvideo Zanjeer behandelt genau dieses Thema. Es fokussiert sich darauf, wie Machträume in der Stadt, in denen besonders Women of Color unterrepräsentiert sind, unser Auftreten im Alltag beeinflussen.

Zanjeer, Farsi für Kette oder Fessel, ist eine Geschichte der Selbstbefreiung auf zwei Ebenen:

  • Die erste Ebene ist die Befreiung von irrationalem Selbstschutz und Leugnung durch das Akzeptieren und Erlauben uneingeschränkter Liebe.
  • Die zweite Ebene behandelt die Befreiung von materiellem Besitz und den Standards, die uns als Gold verkauft werden, aber die uns mehr fesseln, als Eisen es je könnte – Definitionen von Erfolg, von Reichtum, von Weiblichkeit.

Die emotionale Lage, in der man ist, beeinflusst definitiv, wie man Musik hört und sie interpretiert. Als ich den Song Blue Light von Kelela im Mai 2018 hörte, war ich in einer Phase, in der ich das Gefühl hatte, jegliche Selbstliebe verloren zu haben. Ich fühlte mich, als würde ich nur diesen Zielen, die ich mir gesteckt hatte, hinterherrennen, aber mich selbst in dem Prozess verlieren. Als ich sie dann „My chains keep on falling down“ singen hörte, dachte ich, okay, sie richtet diese Worte offensichtlich an eine andere Person. Sie denkt sich ‚Ich lasse dich hinein, ich lege mein Schutzschild ab und erlaube dir, mich zu lieben‘. Und ich fragte mich: wie wäre es mit dem Erlauben von Selbstliebe, wie wäre es, wenn ich mich selbst wieder in mich hineinlassen würde? 

Ich habe das Gefühl, dieses Loch in mir zu haben, und ich frage mich, wer es füllen kann. Wenn ich in mir suche, realisiere ich, dass diese Person nur ich selbst bin. Niemand kann mir diese Aufgabe abnehmen.

Ich werde nicht lügen: Damals sehnte ich mich nach der Aufmerksamkeit von jemand anderem, vielleicht weil ich dachte, das wäre die Lösung. Die Einsamkeit kam hoch und ich dachte, hey, vielleicht brauche ich eine andere Person, vielleicht macht mich irgendein Mann glücklich. Aber dann realisierte ich, dass ich, sobald mir jemand Liebe geben wollte, abblockte. Es war irrational. Es war Selbstschutz. Ich war es nicht gewohnt, Liebe und Anerkennung zu bekommen. Und ich merkte, dass ich, um demgegenüber offen sein zu können, erstmal mich selbst lieben musste. Es hört sich extrem nach einem Klischee an, aber wenn man es einmal erlebt hat, merkt man, dass Leute dass nicht ohne Grund sagen. Es ist wirklich eine Fertigkeit, sich selbst zu schätzen. Daher ist die erste Ebene der ‚chains falling down‘ diejenige des irrationalen Selbstschutzes und konstanten Zweifels daran, dass Leute das Beste für dich wollen.

„Ich denke, viele können sich darin wiederfinden“. sagte ich. „Ich meine, ich kann es… und vielleicht ist dies der Grund, warum wir uns heute getroffen haben.“ „Wirklich?“ fragte Mona. „Ich fühle, dass ich aktuell in einer solchen Lage bin“ fuhr ich fort. „Ich habe das Gefühl, dieses Loch in mir zu haben, und ich frage mich, wer es füllen kann. Wenn ich in mir suche, realisiere ich, dass diese Person nur ich selbst bin. Niemand kann mir diese Aufgabe abnehmen.“ „Absolut“, nickte Mona und fügte hinzu:

„Ich glaube aber, dass es total fair ist, zu denken, dass jemand anderes das, was du ‚Loch‘ nennst, in dir füllen könnte. Ich neigte dazu, mich fertig zu machen, zu denken: warte, du warst nie so schwach; du warst immer so unabhängig, was ist los? Aber es ist nichts falsch daran. Andere können einem ebenso beibringen, sich selbst zu lieben. Aber um das zu akzeptieren, das zu erlauben, muss es bereits einen gewissen Grad an Vertrauen an dich selbst geben. Ich weiß nicht was passiert war, aber ich hatte das total verloren. Wir fokussieren uns oft zu sehr auf unseren Erfolg. Und hier greift die zweite Ebene der ‚chains falling down‘: Ich wollte tiefer in mich gehen und herausfinden, wo diese Fesseln des Selbstschutzes herkamen. Ich realisierte, dass ich den Idealen nachrannte, von denen ich immer dachte, über ihnen zu stehen: eines Tages einen sicheren Job zu haben, exzellente Noten und dieses perfekte Zeugnis der Uni zu erreichen, dir keine Fehler zu erlauben und gleichzeitig emotional für deine Freunde erreichbar zu sein, weil du das Gefühl hast, diese große Schwester zu sein. So spielst du diese Rolle, aber – und hier komme ich dahin zurück, wo ich angefangen habe: manchmal vergisst du dich selbst in dem Prozess. Die Ketten, die dir als goldene verkauft werden, etwa der süße Geschmack des Erfolgs, kann im Endeffekt schädlicher als jegliche Selbstverletzung sein.“

DER RAUM

„Die Geschichte spielt in einem Machtraum, dem Bode Museum“ erklärte Mona. „Ein Raum, der im Prozess der Subjektivierung zurückgefordert wurde. Wenn man wirklich das Bild der Selbstbefreiung, der Emanzipation von den Dingen, die einen zurückhalten, verkörpern möchte, so muss man sich seinen Ängsten stellen. Es ist nicht so, als würde ich das Bode Museum fürchten, aber es geht um die Idee des Herauswachsens aus dem, was man gewohnt ist, und dem Hineinwachsen in fremde Räume. Mit diesen Räumen geht ein gewisses Verständnis von Macht einher und für mich ist ein Museum sehr symbolisch für solche Machträume. Wenn ich an das Bode Museum oder die ganze Museumsinsel denke, weiß ich, dass es UNESO Weltkulturerbe ist und schätze es für die Kultur. (Das Bode Museum, das 1904 eröffnet wurde, ist eines der Museen auf der Museumsinsel Berlins. Es beheimatet eine Sammlung von Skulpturen, byzantinischer Kunst, Münzen und Metallen.) Ich bin immer glücklich darüber, die Kunst zu betrachten und inspiriert zu sein, aber wenn ich herauskomme, fühle ich mich leer. Weil ich mich selbst nicht in diesen Museen wiederfinden kann, fühle ich mich fehl am Platz. Daher war die Idee, diesen Raum zu nehmen und zu unserem zu machen. Und witzigerweise wurde das Bode Museum im Endeffekt an dem Tag wirklich zu unserem Spielplatz. So habe ich mich noch nie in einem Museum gefühlt.

Wir haben versucht, ein Bild von Raum und Protagonist zu kreieren, in dem keiner der beiden dominant ist, sondern in dem sie in Harmonie agieren. Die Wände der Macht brechen das Individuum nicht, das im Zentrum der Aufmerksamkeit bleibt, während es sich aber auch seiner Umgebung bewusst ist. Poliana Baumgarten, die Videographin dieses Projekts, erledigte einen exzellenten Job in dem Einfangen dieser Idee. Und während des ganzen Drehs war das Museum für die Öffentlichkeit zugänglich. Daher entstand an einem Punkt sogar das Gefühl, dass wir Teil der Kunstausstellung waren. Die Statue hinter mir an dem Ort, an dem ich tanze – ich weiß nicht was sie wirklich ist, aber für mich ist sie eine Tänzerin. Und sie steckt fest. In dem Moment, in dem ich anfange mich zu bewegen, erwecke ich sie zum Leben. Und vielleicht bewegt mein Tanz auch diejenige Person, die mir zusieht – zumindest hoffe ich, das zu erreichen.“

Finde das Video hier: https://bit.ly/2PW6nnc

Finde Mona auf Instagram: https://www.instagram.com/monapour_/