Gemeinsame Stellungnahme der AG Migration und der AG Public Anthropology der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) zur Situation an den EU-Außengrenzen
Während sich die mediale Aufmerksamkeit derzeit der COVID-19 Pandemie widmet, ist die sich zuspitzende Situation in den europäischen Flüchtlingslagern aus dem Blickfeld der öffentlichen Debatten verschwunden. Nach der Aussetzung des sogenannten EU-Türkei-Deals und der Grenzöffnung durch die türkische Regierung hat sich die ohnehin schon dramatische Situation in den griechischen Flüchtlingslagern weiter verschärft. Dass wir aufgrund der COVID-19 Pandemie zur räumlichen Distanz zu Anderen angehalten sind, hindert uns nicht daran, darauf zu beharren: Das Schicksal der Menschen in den europäischen Flüchtlingslagern und an den EU Außengrenzen betrifft uns alle. Die Solidarisierung mit ihnen und ein Eintreten für eine politische Beendigung der unerträglichen Lebensumstände in den Flüchtlingslagern bleibt eine absolute Notwendigkeit.
Diese Umstände sind nicht zuletzt durch europäische politische Handlungen entstanden. Die Schüsse auf Geflüchtete, gewaltvoll durchgeführte Push-Backs durch Grenzbeamt:innen, selbstorganisierte Bürgerwehren, die Geflüchtete und Helfer:innen angreifen und die Inhaftierung derjenigen, die es geschafft haben die Grenze zu passieren, sind keineswegs eine unvorhersehbare humanitäre Katastrophe, sondern Ergebnisse seit langem bestehender Praktiken der europäischen „Grenzsicherung“. Dazu kommt die Weigerung vieler EU-Staaten, Geflüchteten überhaupt Asyl zu gewähren.
Diskurse, die die „Abschottung“ der EU begründen oder die vermeintliche Gefahr „illegaler Einwanderung“ beschwören, dienen seit Jahren als Legitimierungsgrundlage für Maßnahmen, die bestehendes Recht auf das Schärfste verletzen. Zum Zweck der Abschreckung wird das Sterben von Menschen im Mittelmeer in Kauf genommen. Die Staaten der Europäischen Union haben sich darauf eingelassen, ein rechtsstaatlich und menschenrechtlich fragwürdiges Abkommen mit der Türkei auszuhandeln, in dem Geflüchtete als politisches Druckmittel eingesetzt werden.
Die EU setzt auf die Externalisierung von Migrationskontrolle und nimmt dabei Menschenrechtsverletzungen, welche die Migrant:innen in Drittstaaten erleiden, in Kauf. Anstatt transparente Einwanderungsmechanismen zu schaffen, beschränkt sich die EU darauf, Menschen außer- und innerhalb ihrer Grenzen von gesellschaftlichen Kontakten abgesondert und unter entmenschlichenden Bedingungen in Lagern und verschiedenen anderen Aufnahmeeinrichtungen festzuhalten.
Auf den ägäischen Inseln hat dies zur Fortschreibung eines vermeintlichen Übergangszustands geführt, der sowohl für die Menschen in den Lagern unerträglich ist als auch zu erheblichen Konflikten zwischen Geflüchteten und lokaler Bevölkerung führt.
Wir fordern politische Maßnahmen zur Gestaltung des Zusammenlebens in den europäischen Migrationsgesellschaften, die sich den Schutz des Lebens aller Menschen als ihre oberste Priorität setzen. Wir rufen alle im Europäischen Rat vertretenen Staaten dazu auf, Verantwortung zu übernehmen und zu handeln. Daher schließen wir uns den Forderungen nach einer Evakuierung der Geflüchteten aus den Hotspots in der Ägäis an. Der weiteren Ausbreitung der COVID-19 Pandemie sind gezielte Maßnahmen entgegenzusetzen, um diesen weitgehend entrechteten Teil der europäischen Bevölkerung zu schützen. Jetzt.
Als Mitglieder der AGs Migration und Public Anthropology der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie (DGSKA) sprechen wir uns entschieden gegen die aktuellen Menschenrechtsverletzungen an den EU-Außengrenzen aus. Menschen müssen die Grenze sicher und unter Berücksichtigung ihrer Rechte passieren dürfen. Zahlreiche Kommunen in Deutschland und Österreich haben sich zur Aufnahme von Schutzsuchenden bereit erklärt. Dies darf von den nationalen Regierungen nicht weiter ignoriert werden. Allerdings darf es auch nicht bei kurzfristigen Notfallmaßnahmen bleiben, auf die wie nach 2015 ein Abschottungsbacklash folgen könnte. Die Herangehensweise der EU und der im Europäischen Rat vertretenen Staaten an Flucht und Migration ist unhaltbar geworden. Es muss dringend ein europäischer Aufnahmemechanismus geschaffen werden, der Migration als herkunftsunabhängiges Recht anerkennt und ermöglicht, ebenso wie es endlich einen konstruktiven Dialog über die Zukunft der europäischen Migrationsgesellschaften geben muss, in dem die Stimmen geflüchteter Menschen, diverser Hilfsorganisationen und der Migrationsforscher:innen nicht fehlen dürfen.
10.04.2020, gez.:
AG Migration der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie
AG Public Anthropology der Deutschen Gesellschaft für Sozial- und Kulturanthropologie
Link zu diesem Statement auf Türkisch hier.