Stimmen in Bewegung – Dritter Teil

Jede/r hat eine Geschichte. Jede/r hat eine Stimme, um sie zu erzählen. Und jede/r hat Ohren, um sie zu hören oder Augen, um sie zu lesen. Da braucht es nur noch Leute, die den Stimmen zuhören, die Gesichter ansehen und zunächst ihre Perspektive ändern und später die Welt.

Die Idee:

Im Januar 2016 begann ich Geschichten von Menschen zu sammeln, die einst aus ihrer Heimat geflohen sind und die jetzt in Deutschland leben. Sie alle hatten ihre Gründe. Sie alle kamen auf verschiedenen Wegen und endeten an verschiedenen Orten. Sie alle hatten verschiedenste Träume, Erwartungen und Pläne für die Zukunft, als sie ihr Zuhause verließen.

Ich trat diese Reise an, weil ich glaubte, dass Leute, die gezwungen werden ihr Zuhause zu verlassen, nicht nur Flüchtlinge, Asylsuchende, illegale Einwanderer oder Katastrophenopfer sind. Sie sind Menschen mit individuellen Gesichtern und Stimmen, die Geschichten erzählen können.

Also sammelte ich Geschichten von Leuten, die etwas mit der Welt zu teilen haben. Ich schuf diesen Raum aus Worten und Fotos, in dem Stimmen sprechen und Ohren zuhören, Augen sehen und Köpfe verstehen können. Viele dieser Stimmen erzählen Geschichten, die zeigen, dass vieles in dieser Welt einer Veränderung bedarf. Wir alle haben Stimmen und die Fähigkeit, nicht nur unsere Körper von Katastrophen wegzubewegen, sondern auch die Möglichkeit, Horizonte über Konventionen und Vorurteile hinwegzuschieben. Wir können uns mit Stimmen verbinden, uns durch Stimmen verbinden und unsere Stimmen verbinden. Folglich verbinden Stimmen Menschen und vielleicht wird eine der Ideen in einer der Geschichten eines Tages der Funken sein, der die ganze Welt heller macht – wer weiß?

 

 

 

 

 

 

 

Amer: Macht und Gerechtigkeit – Unvereinbar? Fußball war mein Traum. Ich habe in Schulmannschaften gespielt, aber man kann kein Fußballspieler bleiben, weil man davon nichts zu essen auf den Teller bekommt. Mein Leben war so normal. Es war ein Leben, wie es die meisten jungen Syrer haben. Als ich merkte, dass ich vom Fußballspielen nicht satt werden kann, habe ich aufgehört zu spielen und wurde Student. Ich machte meinen Schulabschluss und studierte Jura. Wenn man in Syrien Jura studiert, kann man entweder Anwalt oder Richter werden. Aber ich wollte kein Richter werden, denn dann muss man Bestechungsgelder annehmen. Du bist käuflich und es ist schwer, unbestechlich zu bleiben. Wenn du nicht korrupt bist, werden sie dir eine, zwei oder vielleicht sogar drei Chancen geben, das Geld anzunehmen. Wenn du ablehnst, werden sie einen Grund finden, dich ins Gefängnis zu bringen. Meine Erziehung und meine Religion haben mich gelehrt, kein Geld von schlechten Menschen zu nehmen, die gut dastehen wollen. Ich habe mein viertes Studienjahr abgeschlossen und hatte zwei Möglichkeiten: zu arbeiten und zu sterben, oder zu flüchten. Vor etwa zwei Monaten, ich war schon in Deutschland, brauchte ich einige Zertifikate von meiner Universität in Syrien. Also bat ich Freunde, sie für mich abzuholen. Aber die Verwaltung brachte Gründe vor, warum sie mir die Papiere nicht geben können und sagten, ich müsse persönlich vorbei kommen. Also gaben meine Freunde ihnen einfach etwas Geld. Da bekamen sie die Papiere ausgehändigt und schickten sie nach Deutschland. Gerechtigkeit und Macht sollten Hand in Hand gehen. Die Macht kann die Gerechtigkeit beschützen, aber wenn es Macht ohne Gerechtigkeit gibt, wird die Macht missbraucht. Bashar al-Assad zum Beispiel hat Macht und er verändert die Welt zum Schlimmsten. Und er ist Präsident. Er ist also ein Negativbeispiel für jemanden, der die Welt verändern kann. Man muss sich selbst verändern. Würde Präsident Assad sich selbst ändern, wäre alles okay. Wenn du dich aber nicht verändern willst, dann mache zumindest deinen Platz frei für jemanden, der die Welt besser machen kann. Amer, 25 Jahre alt, in Syrien geboren
Anonym: Alle reden durcheinander Es ist ja nicht so, dass wir freiwillig gegangen sind, sondern wir wurden ja vertrieben, aus Jugoslawien. Wir sind über Frankreich nach Deutschland von Lager zu Lager gegangen. Meine Mutter hat immer erzählt, dass sie wahnsinnige Angst hatte, weil mein Vater in den Lagern oft auch jüdische Mitbürger versteckt oder ihnen zur Flucht verholfen hat. Wenn du denen geholfen hast, warst du ja genauso schlimm dran wie diejenigen, die verfolgt wurden. Große Sprünge konntest du ja nicht machen, aber du hast halt versucht, das Menschliche möglich zu machen. Am Anfang sind wir nicht gut aufgenommen worden. Die Kinder haben sogar mit Steinen auf uns geworfen. Ja, wir waren Eindringlinge und die Leute wussten nicht, wie sie damit umgehen sollten. Als die uns dann besser kennengelernt haben, war das alles wunderbar! Dann waren die Leute auch freundlich zu uns und ich war in jedem Haus zuhause. Heute ist es vielleicht auch teilweise so, ich weiß es nicht. Ich denke mir immer, man kann sich doch verständigen, man kann doch miteinander reden. Anständig, vernünftig reden. Aber alle reden ja kreuz und quer durcheinander. Man kann alles ausdiskutieren und man kann auch mal eine andere Meinung akzeptieren. Man muss nicht immer nur seine Meinung für richtig halten. Ich glaube, Einzelne können gar nichts ausrichten, denn wenn du als Einzelner irgendwo deine Meinung einbringen willst, dann wirst du ausgelacht, oder blöd angeguckt. Wenn ich mir was erträumen könnte, dann möchte ich, dass immer und überall Frieden ist in der Welt. Sonst wünsche ich mir gar nichts. Denn Krieg ist glaube ich das Schlimmste, was den Menschen passieren kann. Aber davon kann man nur träumen. Wir sind alt, aber es ist trotzdem wichtig. Für die Kinder, für die Nachkommen, für alle, für die ganze Menschheit. In Jugoslawien geboren