Stimmen in Bewegung – Zweiter Teil

Von Ina Schebler

Jede/r hat eine Geschichte. Jede/r hat eine Stimme, um sie zu erzählen. Und jede/r hat Ohren, um sie zu hören oder Augen, um sie zu lesen. Da braucht es nur noch Leute, die den Stimmen zuhören, die Gesichter ansehen und zunächst ihre Perspektive ändern und später die Welt.

Die Idee:

Im Januar 2016 begann ich Geschichten von Menschen zu sammeln, die einst aus ihrer Heimat geflohen sind und die jetzt in Deutschland leben. Sie alle hatten ihre Gründe. Sie alle kamen auf verschiedenen Wegen und endeten an verschiedenen Orten. Sie alle hatten verschiedenste Träume, Erwartungen und Pläne für die Zukunft, als sie ihr Zuhause verließen.

Ich trat diese Reise an, weil ich glaubte, dass Leute, die gezwungen werden ihr Zuhause zu verlassen, nicht nur Flüchtlinge, Asylsuchende, illegale Einwanderer oder Katastrophenopfer sind. Sie sind Menschen mit individuellen Gesichtern und Stimmen, die Geschichten erzählen können.

Also sammelte ich Geschichten von Leuten, die etwas mit der Welt zu teilen haben. Ich schuf diesen Raum aus Worten und Fotos, in dem Stimmen sprechen und Ohren zuhören, Augen sehen und Köpfe verstehen können. Viele dieser Stimmen erzählen Geschichten, die zeigen, dass vieles in dieser Welt einer Veränderung bedarf. Wir alle haben Stimmen und die Fähigkeit, nicht nur unsere Körper von Katastrophen wegzubewegen, sondern auch die Möglichkeit, Horizonte über Konventionen und Vorurteile hinwegzuschieben. Wir können uns mit Stimmen verbinden, uns durch Stimmen verbinden und unsere Stimmen verbinden. Folglich verbinden Stimmen Menschen und vielleicht wird eine der Ideen in einer der Geschichten eines Tages der Funken sein, der die ganze Welt heller macht – wer weiß?

 

 

 

 

 

 

 

Franz: Wenn du deinen Mund halten musst Erst sind wir mit dem Pferdefuhrwagen weg. Doch dann haben uns die Russen überholt, haben uns ausgeplündert und die Pferde weggenommen. Wir waren in einem Treck mit vielen Leuten unseres Dorfes unterwegs. Unterwegs wurden wir von den Engländern und Fliegern beschossen, überall lagen tote Soldaten und Pferde. Das war eine Katastrophe! Da haben wir auch ein Kind aus dem Dorf verloren. Es war einfach spurlos verschwunden. Erst Jahre später wurde es dann vom Roten Kreuz wiedergefunden und mit der Familie vereint. Dann kamen wir zu einem großen Bauern in Bayern. Wir hatten dort ein Zimmer mit Betonfußboden, auf den wir Stroh geschmissen hatten, um darauf zu liegen. Der Raum war schimmlig und feucht. Nebenan hat ein Ehepaar gewohnt, die zu uns sagten: „Da könnt ihr nicht schlafen! Ihr seid sowieso so krank. Kommt rüber zu uns.“ Also haben sie uns da ein Zimmer zur Verfügung gestellt. Als wir ankamen, hatten wir uns in den Flüchtlingslagern viele Krankheiten und Ungeziefer eingefangen. Die Ärztin hat uns untersucht und dann sofort zu einem Gasthaus zum Essen geschickt und gesagt, sie würde das bezahlen. In der Schule haben wir drei Flüchtlingsbuben extra gesessen, damit wir die anderen nicht anstecken. Ich hatte die Krätze und der eine hat gehustet. Wir wurden mit Schwefelsalbe eingerieben, alles hat gebrannt und genässt, überall hatten wir Eiter. Das war die schlimmste Zeit damals. Und Hunger! Hunger hatten wir! Das kann man sich nicht vorstellen! Denn wir hatten kein Brot und nichts zum Essen. Da hat die Mutter immer gesagt: „Leg dich hin und schlaf, damit du den Hunger verschläfst.“ Wenn du dann aufgewacht bist, war wieder nichts da! Heute wünsche ich mir, dass es so weitergeht, wie wir jetzt leben. Aber man sollte auch anderen Ländern helfen hochzukommen. Jetzt kommen viele Flüchtlinge zu uns. Ich sehe ja, dass die Leute dort nicht leben können. Es heißt immer, wir können nicht die ganze Welt aufnehmen, aber wo sollen die auch hin? Wo sollen denn die hin in ihrer Not? Das ist doch die Frage. Dort drüben, hatten wir als Deutsche keine Freiheit. Wenn man den Mund halten muss, ist man nicht frei. Du musst dir immer überlegen: Was sagst du? Wem sagst du es? Wen hast du vor dir? Wem kannst du was anvertrauen? Es gibt ja nichts Schöneres, als frei zu sein. Dann muss man auch andere Meinungen respektieren. Manche Leute verschlafen ihre Freiheit auch. Heute zum Beispiel kann man einfach über die Grenze nach Tschechien fahren. Man muss nicht einmal seinen Ausweis vorzeigen. Wann hat’s denn das gegeben? Das hat man noch nie erlebt! Sich frei bewegen zu können, ist eine große Freiheit.
Mustafa: Wenn man die Jugend unterstützt Ich möchte allen Menschen helfen. Ich möchte, dass alle Leute gleich sind. Ich möchte, dass es keine reichen Leute und keine armen Leute gibt. Der Hauptgrund für die jetzige Situation ist die Regierung. Sie hilft den Menschen nicht; vor allem nicht den jungen Leuten, sie gibt ihnen keine Chancen. Ich komme aus Babylon. Babylon hat eine sehr lange Geschichte. Früher haben die Bewohner so viele Dinge entwickelt. Aber durch die jetzige Politik ist nichts davon geblieben. Alles ist zerstört, wegen der Regierung und der amerikanischen Armee. Würde man einfach nur die Jugend unterstützen, würden diese für Entwicklung sorgen und alles tun, um das Land aufzubauen. Aber sie haben keine Chance das zu tun. Wenn die jungen Leute die Universität abschließen, als Ingenieure, als Wissenschaftler – sie studieren ja alles mögliche – dann bekommen sie keine Arbeitsplätze und können nichts tun. Ich zum Beispiel habe erst ein Jahr lang Maschinenbau studiert. Dann wechselte ich zu Biologie, studierte vier Jahre lang, spezialisierte mich auf Umwelt und Umweltverschmutzung und bekam keinen Job. Wenn ich Präsident wäre, könnte ich vielleicht helfen. Aber das ist unmöglich für mich. Ich kann jedoch in meinem Fachgebiet, der Biologie, arbeiten. Ich möchte Menschen und der Natur helfen. Wenn ich der Natur helfe, hilft das auch den Leuten, denn eine saubere Natur hilft den Menschen. Im Irak ist alles verschmutzt – Wasser, Luft, Boden – weil es keine Spezialisten auf diesem Gebiet gibt. Es gibt ein Umweltministerium, aber die stecken nur ihr Gehalt ein und tun nichts. Die Professoren meiner Universität haben in Europa, Amerika, Großbritannien und Kanada studiert. Sie haben uns immer gesagt, dass es viel Umweltverschmutzung im Irak gibt, wir aber nichts für das Land tun können, wegen der Politik. Wenn ich könnte, würde ich zuallererst das politische System verändern. Ich würde gute Leute einsetzen, die auch Gutes für die Menschen tun und alles verändern würden. Ich würde gebildete Leute einsetzten, die nicht zu beschäftigt sind, dem Geld hinterherzurennen. Mustafa, geboren im Irak