Text: Sarah Fichtner & Hoa Mai Trần
Illustrationen: Michaela Schultz
Auf das Buch „Wir Kinder aus dem FlüchtlingsHeim“, von Cool Kids & Hoa Mai Trần mit Illustrationen von Michaela Schultz, habe ich lange gewartet. Es ist ein großartiges Buch!
Auf der Homepage des Verlags Viel & Mehr kann es nicht nur bestellt, sondern auch als kostenfreies PDF in den Sprachvarianten: Arabisch – Deutsch, Englisch – Deutsch, Farsi – Deutsch, Kurmancî – Deutsch und Tigrinya – Deutsch heruntergeladen werden.
Wie die Projekte, die wir mit der Medienwerkstatt Encounters betreiben, ist auch dieses Kinderbuchprojekt kollaborativ und eine Übersetzungsleistung auf mehreren Ebenen: Die darin erzählten Geschichten basieren auf Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt „Alltagserleben von jungen Kindern in Not- und Gemeinschaftsunterkünften“ in Berlin, in dem ich mit Hoa Mai Trần 2016–2017 arbeitete. Im Anschluss an das Projekt sammelte Hoa Mai Trần Geschichten von und mit ungefähr 80 Kindern im Alter von 3-12 Jahren aus drei Unterkünften in Berlin und entwickelte diese weiter.
Sarah: Erzähle mal, wie das Projekt entstanden ist!
Mai: Alles begann, als ich während unseres Forschungsprojektes realisierte, wie wenig von dem, was wir von den Kindern und Familien erfahren haben, letztlich veröffentlicht werden sollte und wo: nämlich in akademischen Zeitschriften und Fachbüchern. Ich beschäftigte mich stark mit den Fragen: Für wen schreiben wir eigentlich? Wer profitiert davon? Wer verdient Geld damit und darf auf dem Podium sitzen? Was haben die Kinder davon? Gibt es nicht eine andere Möglichkeit, unsere Forschungsergebnisse zu transportieren?
Wir haben uns zu dem Zeitpunkt ja auch damit befasst, was engagierte Forschung eigentlich bedeutet, was die Forschung mit uns macht, was sie uns ermöglicht, was sie den Kindern bedeutet und um wen es am Ende geht: wer steht eigentlich wirklich im Mittelpunkt?! Alle im Projekt, vor allem Petra Wagner von der Fachstelle Kinderwelten am Institut für den Situationsansatz, begrüßten es, die Forschungsergebnisse für Kinder und Familien aufzubereiten, aber es fehlte, wie so oft, an Zeit und Geld, diese Ideen innerhalb der Projektlaufzeit zu realisieren.
Also schrieb ich mit Petra zusammen einen Antrag, um anknüpfend an die Forschung das kollaborative Kinderbuchprojekt umzusetzen. Mit Michaela, der Illustratorin, hatte ich bereits 2017 angefangen, einige Geschichten aus der Forschung zu besprechen und eine grobe Kapitelstruktur und erste Illustrationen visuell aufzubereiten. Wir wollten aber noch andere Kinder, aus Unterkünften, die wir noch nicht kannten, mit einbeziehen und fingen an, Kontakte zu knüpfen. 2018 bekamen wir dann die Zusage für die Förderung. Das war der offizielle Startschuss.
Sarah: Was war Dir besonders wichtig?
Mai: Das Leitziel war, die Kinder würdevoll, realistisch und auch fantasievoll-kreativ zu repräsentieren. Und dass sie sich wiedererkennen. Das tun sie auch; sie überidentifizieren sich teilweise mit den Charakteren. Mir war es auch wichtig, eine sehr breite Altersgruppe von Kindern mit einzubeziehen (3-12 Jahre) und auch als Zielgruppe zu erreichen, denn die Geschichten, die wir gesammelt haben, wurden sowohl von sehr jungen, als auch älteren Kindern erzählt. Die jungen Kinder haben auch was zu sagen, es liegt nur an uns herauszufinden, wie sie’s ausdrücken können, und dafür aufmerksam zu sein. Wir haben bei unseren Besuchen in den Unterkünften die Geschichten der Kinder angehört, eingeholt, zusammen gemalt, sie gemeinsam weiterentwickelt und manche Elemente, wie die „Kinderrevolution“, aus unserer Forschung mit reingenommen.
Für die Wunschliste am Ende des Buches, haben die Kinder untereinander ihre Wünsche auf Zetteln eingesammelt – es waren über 100! Dann sind wir nochmal in alle Unterkünfte gegangen und haben Punkte verteilt und so ein Ranking erstellt, welche Wünsche am wichtigsten sind und in das Buch kommen. Das war für viele der Kinder sehr spannend. Es wurde auch die Frage gestellt, wozu wir das machen, wenn sich sowieso nichts davon erfüllt. Eine berechtigte Kritik. So schön ein Kinderbuch auch wirken mag, es ist nicht die Lösung vieler Probleme, die die Kinder und Familien betreffen.
Im ganzen Prozess war es mir immer wichtig, offen zu sein für die Interessen der Kinder und nicht nur das Buch in den Vordergrund zu stellen. Also Räume zu öffnen innerhalb des Projekts für das, worauf die Kinder wirklich Lust haben – für uns gemeinsam. Wir sind beispielsweise auch gemeinsam auf Lesereisen gefahren und waren beim vielfältigen Kinderbuchfestival. Wir haben aber auch verschiedene Betten in der Möbelabteilung ausprobiert, haben Picknicks ausschließlich mit Süßkram und Knabbersachen gemacht, eine Lieblingsplaylist für Autofahrten erstellt – das alles haben wir mit den Lesungen verbunden.
Sarah: Was macht für Dich kollaboratives Arbeiten aus?
Mai: Kollaboratives Arbeiten heißt für mich: sich bewusst zu sein, viele Fehler zu machen, viele Perspektiven auch nicht mit einbeziehen zu können und es doch immer wieder zu versuchen.
Sarah: Wen möchtet ihr mit dem Buch erreichen?
Mai: Na, alle – Kinder und Erwachsene! Es ist ja kein Spezialthema. Ich habe es für die Kinder im Projekt gemacht und für Kinder, denen es ähnlich geht. Viele involvierte Kinder fanden, es sei für nicht-Betroffene gut, dass die mal Bescheid wissen. Damit sind alle Menschen abgedeckt!
Sarah: Ja! Ich weiß von einem Bekannten aus Kenia, dass er das Buch für die Kinder in seinem Heimatdorf, in dem es ein Flüchtlingscamp gibt, ganz toll findet. Es zieht also bereits weite Kreise!
Mai: Wow, krass! Mit sowas hätte ich niemals gerechnet.
Sarah: Wird es ein weiteres Buch dieser Art geben?
Mai: Wir haben erstmal die Idee, pädagogisches Begleitmaterial zum Buch zu erstellen, für Kitas, Grundschulen und migrantische Organisationen usw. Dabei setze ich mich dafür ein, dass ein paar leere Seiten für die jeweiligen Kinder reserviert sind, auf denen sie den zuständigen Fachkräften Vorschläge machen, wie das Buch eingesetzt werden kann. Power-sharing halt! Ich habe ein paar kleine Hebel, die ich aus meiner privilegierten Position heraus drücken kann. Damit kann ich den Kindern Erfahrungen ermöglichen, die sie vielleicht sonst nicht hätten – das ist toll, dafür bin ich sehr dankbar. Dafür mache ich ja das Ganze.
Die Kinder haben noch andere Interessen. Das geht eher in Richtung Social Media, oder eine Vertonung des Buchs in den verschiedenen Sprachen. Sie finden auch Lesetouren toll, vor allem an Orten und Städten, wo sie noch nicht waren, beispielsweise in anderen Unterkünften oder an Grundschulen…
Sarah: …oder in Bibliotheken! Vielleicht ließe sich da ja mit der Medienwerkstatt Encounters was initiieren! ? Mich haben die Geschichten beim Lesen und Anschauen auf jeden Fall total berührt. Ich hab gelacht, ich hab geweint – und wenn ein Buch so etwas kann, dann ist es auf jeden Fall gelungen.
Mai: Mich hat dieses Projekt auch verändert. Die Kinder haben mich verändert. Das ist eine Begegnung für’s Leben, nicht nur für ein Buch.