Hannah Stietenroth und Elisabeth Winterer
Aufgenommen am 13.01.2020, Länge: 04:03 min.
Wir treffen uns in einer Bäckerei am Hermannplatz, um uns auf die bevorstehenden Interviews vorzubereiten. Wir wollen wohnungslose Menschen auf das Thema Schönheit ansprechen. Es ist der 23. Dezember um die Mittagszeit, viele Menschen in Berlin haben Ferien und befinden sich im vorweihnachtlichen Konsumstress. Wir merken plötzlich, dass unsere Begeisterung, diese anthropologischen Interviews inmitten des Berliner Alltags durchzuführen, einer großen Anspannung und Ungewissheit gegenüber unserem Thema gewichen ist. Wir gehen mit Unwohlsein los: Wie können wir denn wohnungslose Menschen nach Schönheitsidealen oder -praktiken fragen, wenn diese (wahrscheinlich) mit der Beschaffung von Essen und einem Dach über dem Kopf beschäftigt sind?
Wir sprechen eine Frau an, die am Eingang zum U-Bahnhof sitzt und um Geld bittet. Sie erklärt sich einverstanden, mit uns zu sprechen, mit dem Einwand, dass sie kein Deutsch, dafür aber Rumänisch, Spanisch und Französisch spreche. Ich (Elisabeth) führe das Interview auf Spanisch, Hannah hört zu. Es fällt schwer, konkrete Fragen zu unserem Thema zu stellen, obwohl unser Gegenüber von sich aus redet, sich vorstellt, von ihrer Situation erzählt und uns um Hilfe bittet. Ob wir ihr nicht helfen könnten, einen Job zu finden. Wir fühlen uns unwohl in unserer Haut. Es ist kalt dort oben auf dem Hermannplatz – unsere Interviewpartnerin wollte nicht von uns in ein Café eingeladen werden. Wir sitzen im Dreieck auf den Bänken eines Kaffee-Mobils. Letzten Endes sind wir erleichtert, als das Interview vorbei ist. Und trotzdem war es auch ein nettes Gespräch.
Wann sprechen wir schon einfach mal mit einer fremden Person im Berliner Alltag? Haben ein tiefergreifendes Interesse für einen Menschen in einer wohnungslosen Situation? Für uns eingeborene Berlinerinnen ist die Situation neu und einzigartig.
Als nächstes sprechen wir einen Verkäufer der Berliner Straßenzeitung Motz vor dem Einkaufszentrum Karstadt an. Eine von uns kennt ihn schon seit langer Zeit vom Vorbeigehen. Sein Ausdruck scheint freundlich und sehr sympathisch. Ebenso ist seine Absage auf unsere Interviewanfrage. Er habe damit schlechte Erfahrungen gemacht – wünscht uns aber frohe Feiertage.
Danach schleicht sich bei uns Verzweiflung ein. Ob der Abfuhr, dem Kontrast zwischen unserem akademischen Anliegen und der vielen Personen im U-Bahnhof, die schlafen, Drogen konsumiert haben oder dies gerade tun. Auf den Gleisen, bei den Bänken stinkt es, ist dreckig, es zieht und es herrscht eine Hektik die für einen Umsteigeort wohl typisch ist. Wir sehen viele Menschen, die sichtlich in Situationen leben, die ihre Bedürfnisse nicht abdecken können. So zumindest unser Blick von außen. Manche Personen sitzen allein auf einer Bank, andere sind in Gruppen versammelt und unterhalten sich rege. Uns schüchtern die Diskrepanz und der gesamte Ort ein. Mir stellt sich die Frage, wie sich unsere Blicke für jene wohnungslosen Menschen anfühlen. Denn wir gucken viel genauer hin als sonst in unserem Alltag. Dennoch brechen wir die Distanz nur ein paar Mal auf.
Wir fahren mit der U8 zum Alexanderplatz und hoffen unterwegs, dass wir eine Person, die uns um Geld fragt, ansprechen können. Am Alex steigen wir aus, schlendern verunsichert auf dem U-Bahnsteig herum und beobachten eine Person im Rollstuhl, die nach vorn gekippt zu schlafen scheint. Der Becher mit ein paar Münzen liegt vor ihr auf dem Boden. Wir überlegen, hin zu gehen und Hilfe anzubieten. Ein Mann aus dem Kiosk kommt uns zuvor und drückt der Person den Becher zurück in die Hand, die Person rollt weg. Dann beschließen wir, noch eine Person, die dort auf einer Bank sitzt, anzusprechen. Der Aufhänger ist seine weihnachtliche Brille. Wir führen, begleitet von vorbeihastenden Menschen und ein- und ausfahrenden U-Bahnen ein 20-minütiges Interview. Wir lachen dabei zu dritt und es fällt schwer, das Gespräch zu beenden. Da ist Redebedarf. Wir verabschieden uns sehr dankbar und sind beide erschöpft. Erleichterung macht sich breit – wir ziehen uns wieder in die Anonymität der Berliner Öffis zurück, um möglichst schnell in unsere eigenen vier Wände zu kommen.