Nina Baum, Jodi Cheuk-Tung Wong, Claudia Sáez Fernández, Amelie Bauer
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Bei diesem Dokument handelt es sich um Original-Forschungsmaterial, das nicht übersetzt und nicht lektoriert wurde.
In Berlin scheint alles möglich –zumindest, was die Kleidung angeht. Jede*r hat die Möglichkeit, sich modisch frei zu entfalten; unser Stil ist Ergebnis unserer persönlichen Entscheidungen und Präferenzen. Doch spiegelt sich in unserer Kleidung nicht mehr als individueller Geschmack wider? Inwiefern prägen „äußere“ Faktoren unsere Vorlieben? Und ändern sich diese je nach sozialem und geographischem Zusammenhang?
Um jenen Fragen auf den Grund zu gehen, haben wir uns mit drei Personen unterhalten, die in einem transnationalen Kontext leben. Inspiriert durch die Forschung von Rahime Arzu Ünal zu den Kleidungspraktiken von türkisch-niederländischen muslimischen Frauen, bei der sie die Kleidersammlungen ihrer Informantinnen analysierte, haben auch wir einen Blick in die Kleiderschränke unser Interviewpartner_innen geworfen. So konnten wir einen Einblick in die jeweiligen Realitäten und daraus resultierende Kleidungspraktiken bekommen und waren überrascht, welche Vielfalt an Themen sich im Lauf der Gespräche ergaben. Im folgenden Abschnitt geben wir einen kleinen Einblick in die meist mehrstündigen Interviews.

M. ist 30 Jahre alt und seit vier Jahren in Berlin. Er hat seine Kindheit und Jugend sowie sein Studium abschnittsweise in Jordanien, wo er geboren ist, und in Saudi-Arabien verbracht. Im Gespräch mit ihm kamen wir immer wieder auf das Thema Tattoos zu sprechen. Beide seiner Großmütter tragen traditionelle Tätowierungen am Kinn, sogenannte wasm (وسم), die auch als Zeichen der Schönheit gelten. „Moderne“ Tattoos werden washm (وشم) genannt und häufig mit negativen Stereotypen assoziiert, teils auch aus religiösen Gründen abgelehnt. Auch M. trägt ein Tattoo, das die meiste Zeit unter dem Ärmel seines T-Shirts verborgen ist. Als ein Freund ihn in der Schulzeit tätowierte, wählte M. die Stelle bewusst hoch genug, um das Motiv jederzeit verstecken zu können. Bis heute achtet er darauf, bei einem Besuch seiner ebenfalls tätowierten Großmütter Kleidung mit längeren Ärmeln zu tragen. Als M. uns seine beachtliche Schuhsammlung zeigt, bemerkt er, dass bei einem Besuch seiner Verwandten in ländlichen Gebieten sein Schuhwerk am häufigsten kommentiert wird. Er versucht, sich bei seinen Besuchen dort weniger formell anzuziehen, doch Verwandte nannten ihn nach einem Besuch, bei dem er seine Bugatti-Schuhe anhatte, „fancy boy“.


N. ist 26, in Berlin geboren und in Berlin-Charlottenburg aufgewachsen. Seine Mutter ist Chinesin aus Malaysia und sein Vater aus Indien. Bei seinen nicht allzu häufigen Besuchen achte er vor allem in Indien bewusster auf seine Kleidung. Das liegt daran, dass seine Verwandten dort in ruralen Gegenden wohnen, aber auch am Wetter: Es sei sehr heiß und man trägt kurta pajama, eine Kombination aus einem längeren Hemd und einer luftig geschnittenen Hose, beides aus leichten Stoffen. In Malaysia, wo seine Familie im urbanen Raum lebt, ändere sich sein Kleidungsstil weniger. N. zeigt uns einige seiner kurta, die er in Indien vor allem trägt, weil sie sehr bequem sind aber auch wegen der Verbundenheit und dem Zugehörigkeitsgefühl, das sich für ihn auch über Kleidung verstärken lässt. Es werde aber nicht von ihm erwartet, sich auf diese Weise zu kleiden. An seinem rechten Handgelenk trägt N. eine kara, ein silberner (oder goldener) Armreif den viele Sikhs tragen. Für ihn war das Tragen der kara manchmal mit einem Zwiespalt verbunden. N. wird von vielen als indisch aussehend wahrgenommen, eher weniger oft als chinesisch. Als Person of Colour in Deutschland aufzuwachsen konfrontierte N. vor allem früher immer wieder mit Identitätsfragen. Für ihn bedeute die kara ein Stück der Kultur seines Vaters bei sich zu tragen, und andererseits kann es unangenehm sein, deswegen auf panjabi angesprochen zu werden, da N. nicht fließend spricht. Nach einem Besuch in London, wo die Sikh-Community größer ist als in Berlin, fühlte sich N. eine Zeit lang nicht mehr wohl, die kara zu tragen und legte sie ab. Seine Großmutter legt Wert darauf, dass ihre Enkel den Armreif tragen: als sie bei einem von N’s Besuchen bemerkte, dass seine kara leicht angebrochen war, ließ sie sofort eine neue für ihn besorgen.


V., 28, ist in Lima, Peru geboren und kam nach Berlin, als sie acht Jahre alt war. Als Erstes zeigt sie uns ihre goldenen Ohrringe und die Haarnadel, die sie bei den Auftritten ihrer peruanisch-bolivianischen Folklore-Tanzgruppe trägt. Den Schmuck hat ihr Vater in Lima für sie besorgt. V. ist professionelle und leidenschaftliche Tänzerin; wenn man so fürs Tanzen lebe, würde man eben keine “0815-Ohrringe” tragen wollen. Die Gruppe performt verschiedene Tänze der Cumbia, Marinera und Cueca und setzt sich auch mit deren teils massiv vom Kolonialismus geprägten Geschichte auseinander. Die TänzerInnen investieren viel Zeit und auch Geld in die Gruppe. V. zeigt uns ihre Sammlung an Röcken, die sie bei Auftritten trägt: alle sind ziemlich schwer und handgemacht in Peru, zwei davon von ihrer Tante. Als wir vor ihrem Kleiderschrank stehen, zeigt uns V., welche Sachen sie bei ihrer letzten Peru-Reise dabei hatte. Ihre Tante bat sie, sich doch “normal und weniger auffällig” für einen Marktbesuch anzuziehen. V. und ihre Tante konnten nicht genau sagen, was an ihrem Outfit (Khaki-farbene, eng geschnittene Hose, schwarzes T-Shirt) auffällig war. Jene Kleinigkeiten sind oft schwer benennbar, so versuchen wir anhand von Beispielen zu ergründen, was potentiell “auffällig” sein könnte. Hier in Berlin gibt sie sich Mühe, “gepflegt” und “professionell” auszusehen, vor allem für erste Eindrücke. Sie wolle nicht “in eine Schublade gesteckt” werden und negative Stereotype bekräftigen. Im Lauf des Gesprächs kommen wir auch immer wieder auf “Freizügigkeit” zu sprechen. V. betont, sich möglichst schick aber “dezent” kleiden zu wollen. Den schwarzen Body mit semi-transparenten Einsatz, den sie uns zeigt, würde sie nur tragen, wenn sie mit Ihrem Freund unterwegs ist.


Für uns bemerkenswert war, dass Unterschiede in der Kleiderauswahl weniger durch den transnationalen Kontext unserer Forschungsteilnehmer_innen als vielmehr durch Aspekte wie Ruralität oder Urbanität geprägt sind. Alle betonen auch die großen Unterschiede, die sie zwischen den vorherrschenden Kleidungspraktiken in verschiedenen Stadtteilen Berlins wahrnehmen. Soziale Beziehungen sind ein ebenfalls prägender Faktor, wie im Fall M’s, der sein Tattoo vor einem Teil seiner Familie verborgen hält. V. sprach als Frau als einzige Informantin bewusst über ihre Kleiderwahl im Zusammenhang mit ihrer Geschlechtsidentität: wie sie sich kleidet, hängt in manchen Fällen von ihrer Begleitung ab. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass unsere Informant_innen ihre Kleidungs- und Schönheitspraktiken geschickt an ihre jeweilige Umgebung und verschiedene Zwecke anpassen. Durch Kleidung lässt sich Zugehörigkeitsgefühl verstärken, sie kann Objekt von Identitätsfragen und Teil einer Strategie zur Vermeidung von möglicher Diskriminierung sein.