Körper mit Gewicht: Über Zuschreibungen und Selbstempfinden

Lilith Z. und Jennifer Rosenberg

This document is original research material that has not been translated or edited.

Bei diesem Dokument handelt es sich um Original-Forschungsmaterial, das nicht übersetzt und nicht lektoriert wurde.

Was verbinden wir mit verschiedenen Beschreibungen von Körperform und Körpergewicht? Welche Glaubenssätze sind mit unseren Assoziationen verbunden? Und wie prägen diese unser Verhältnis zum eigenen Körper? In langen, intimen Interviews gewährten uns Solveig, Sandra, Lynn und Anastasia einen Einblick in ihre Erfahrungswelt und beschrieben die tiefgreifende Auswirkung von Körpernormen und -idealen auf ihr Leben.

Jennifer besuchte Solveig an einem sonnigen Vormittag zuhause. Sie erzählte frei drauf los und blickte nur ab und zu mal auf den Zettel mit den verschiedenen Begriffen über Körperformen, den ich ihr als Gesprächsgrundlage ausgehändigt hatte. Dabei malte sie immer wieder Kreise um einzelne Wörter, während sie berichtete, was sie mit ihnen assoziierte: “Ich habe das Gefühl “underweight” ist nur ein Wort, das ich in Artikeln sehe, in denen es um jemanden geht, der eine Essstörung hat. Und sonst höre ich das Wort nicht wirklich, oder ich habe nicht viele Assoziationen damit, weil ich nie an dem Punkt war.[…] ‘Skinny’ ist wie das ideale Wort, das Ziel, dem vielleicht jedes Mädchen entgegenstrebt. Dünn zu sein, wegen all dem, was wir um uns herum sehen. Das ist die optimale Körperform, nach dem, was in Zeitschriften und Filmen gesehen wird, welche Schauspielerinnen genommen werden und so.” Das Wort “fat” empfand sie als eine Beleidigung. Sie erinnerte sich, wie ihre Schwester sie manchmal im Streit so genannt und sie damit durchaus getroffen habe. Für sie beschreibt das Wort nicht einfach nur eine Körperform, sondern es kommuniziert “du machst etwas falsch. Du hast nicht die richtige Form, du kümmerst dich nicht um dich. Du solltest dich schämen.”

In unserem Gespräch kamen wir immer wieder auf die große Rolle zurück, die ihre Erfahrungen als Sexarbeiterin für ihr Verhältnis zu ihrem Körper gespielt hat:  “[A]ls ich 19 war, habe ich begonnen, in einem Strip Club zu arbeiten und dann lief es wirklich gut und meine Selbstsicherheit in Bezug auf meinen Körper wurde viel größer.” Dennoch berichtete Solveig von ihrem lange bestehenden Wunsch, nicht zuzunehmen oder sogar abzunehmen, der einen großen Leidensdruck verursachte und zeitweise sogar zu einer bulimischen Essstörung führte: “Mein Gewicht ist mein größter Kampf, den ich mein ganzes Leben hatte, glaube ich. Das war nie etwas, wo ich es geschafft habe, obenauf zu sein und es zu kontrollieren.” So richtig erklären, woher der Leidensdruck kommt, kann sie sich nicht. Im Gegensatz zu unseren anderen Interviewpartnerinnen kann sie sich auch nicht erinnern, dass ihre Familie ihr je das Gefühl gegeben hätte, sie solle abnehmen.

Jennifers Treffen mit Sandra fand über Skype statt. Ich lud sie ein, frei zu den Wörtern zu assoziieren, die ich ihr vorgab. Die Mindmap erstellte ich dann im Nachhinein aus den Assoziationen, die sie mir nannte.

„Overweight“ ist für Sandra ein stark besetztes Wort. Es ist mit der Familie verbunden, die großen Wert auf das Essen legte und das Anbieten und Annehmen von Essen als einen Ausdruck von Liebe verstand. „Also… man musste essen um zu zeigen, dass man das alles –Liebe!– annimmt und die Anerkennung –alles– von den Elterngenerationen annimmt. Aber zur gleichen Zeit wurde man kritisiert, dass man… wie man aussah, nach dem [lacht] ganzen Essen.“

Als Teenager und junge Frau verband sie „Übergewicht“ mit hässlich und unattraktiv für potenzielle romantische Partner sein. Doch darüber hinaus wirkte sich die Selbstempfindung „übergewichtig“ zu sein negativ auf die Wahrnehmung ihrer Persönlichkeit und Fähigkeiten aus: „Wenn ich mich schlecht gefühlt, wenn ich mich dick gefühlt hab’, dann hab’ ich mich auch gleichzeitig dumm gefühlt. Obwohl es ja keinen logischen Zusammenhang gibt. Aber das war so eine essenzielle Größe, dass das auf alles andere ausgestrahlt hat. Dass man dann plötzlich sich nicht mehr lustig gefühlt hat, oder dann keine gute Laune mehr hatte oder so was.“

Auch der Begriff „underweight“ ruft viele Assoziationen hervor. Für S. waren die Frauenkörper, die sie in den Frauenzeitschriften zu sehen bekam, „untergewichtig“ und damit wurde „Untergewicht“ zu einem erstrebenswerten Ideal für sie: „Underweight war mal, was ich angestrebt hab’. Hab’ ich auch mal kurze Zeit mal geschafft. Ist lebensbedrohlich, ist ungesund … Ja. Geh’n die Zähne von kaputt [lacht], kann dein Herz… –kann alles, ja, kann dich einfach krank machen. Knochen, wenn nur noch Knochen da sind…“

Warum hat sie das dann angestrebt? Warum war Untergewicht eine attraktive Kategorie, obgleich sie mit Krankheit assoziiert war? „Ich war ein braves Kind. Gut in der Schule, all den Kram, und dann muss man dis auch irgendwie in den Griff kriegen, weil das auch dazu gehört, gut zu sein. Also wenn man ja sowieso immer gut ist und alles macht, wie’s so sein muss, dann sollte man auch das hinkriegen.“ In dem Versuch, „untergewichtig“ zu werden, entwickelte Sandra eine Bulimie. Mittlerweile ist sie, wie sie selber sagt, daraus ausgebrochen. Zentral in diesem Prozess war unter anderem die Geburt ihrer Kinder.

„Wenn du Kinder hast kriegst du nochmal ein ganz anderes Verhältnis zu deinem Körper, weil du echt dann einfach bei der Geburt und so… Da geht’s echt um ganz andere Dinge und dis ist einfach klasse, was dein Körper da macht und wenn du ein gesundes Kind hast, das ist einfach… Dann musst du damit zurechtkommen wie dein Körper danach aussieht [lacht], aber, aber abgesehen davon pendelt sich so ein anderes Verhältnis dazu ein.“

Die Begriffe „übergewichtig“ und „untergewichtig“ spielen weiterhin eine Rolle, doch sie werden von Sandra eher als medizinische Realitäten denn als normative Begriffe empfunden. Ihrer Tochter möchte sie eine andere Idee von Körpergewicht und Körperform mitgeben, als sie selbst in ihrer Herkunftsfamilie erlernt hat. Ihr Wunsch ist es „[…] ein Bild zu vermitteln, dass es kein Ideal gibt, dass das, was sie hat, wertvoll ist, und sie darauf aufpassen soll, und dass ein Teil von dem Aufpassen halt ist, auch zu gucken, was… man isst. Dass es halt eher so was Praktisches wird. Dass man halt guckt, wie man sich fühlt und was gut ist und so.“

Der Wunsch, dass sich die gesellschaftlichen Vorstellungen von Körpergewicht und -form verändern, ist für Sandra auch Teil der Motivation, an unserer Forschung teilzunehmen: „[…] weil es einfach so ein blödes selbstgemachtes Problem ist, oder auch von der Gesellschaft einfach aufgepfropftes Problem ist, das man echt nicht braucht. [lacht]. Und wo’s so schwer ist, von loszukommen… Und das einen ja auch wirklich krank machen kann. Ja, deswegen liegt’s mir so am Herzen.“

Lynn und Jennifer saßen an meinem Küchentisch und tranken Tee. Sie redete schnell und kritzelte dabei immer wieder Wörter und Phrasen auf die Mindmap, machte Pfeile und verband die einzelnen Begriffe miteinander, um ihre Gedanken zu illustrieren.

Für Lynn schienen die Wörter „overweight“ und „underweight“ nicht sehr emotional aufgeladen zu sein, doch sie kommentierte, es sei komisch, dass es kein neutrales Wort gebe. „Weil… Es gibt “Übergewicht” und “Untergewicht”, aber was ist einfach nur Gewicht? Ja, was ist einfach nur Gewicht?”. Wie auch für andere Interviewpartnerinnen sind die beiden Begriffe für sie vor allem mit dem BMI (body mass index) assoziiert und werden als Ausdruck dafür gesehen, ob ein bestimmtes Körpergewicht für eine bestimmte Person gesund ist.

“Fat” auf der anderen Seite hat eine große Bedeutung. Das Wort ruft die mahnende Stimme der Mutter wach und die Erinnerung daran, dass ihre Mutter große Angst vor einem solchen Zustand empfand: “Meine Mutter hat mir schon früh Scham vermittelt. Also, es war so: “Du willst nicht fett sein”. Ja, das ist genau die Stimme meiner Mutter… Es war wie eine Art, es wurde zu der schlimmsten Sache die man sein könnte. Weil, meine Mutter ist nicht dünn, sie ist nicht… sie ist nicht dick, aber sie war nie dünn, macht das Sinn? Also, sie war immer gesund, sie hat Sport gemacht, aber es war, es war die Angst, die Angst vor dem Dicksein.”

Lynn hat den Eindruck, dass ihre Selbstwahrnehmung durch ihre Mutter sehr negativ geprägt wurde: “Meine Mutter hat immer das Gewicht anderer Menschen kommentiert. Sie war so, sogar jetzt noch, und ich muss sie darum bitten, keine Kommentare zu machen, weil mich das wirklich triggert. Und auch über mein Gewicht. Als ich mich bemüht habe, meine Bulimie und alles hinter mir zu lassen, meinte sie so: “Oh, gut gemacht, du hast abgenommen!” und ich sagte: “Ich möchte nicht, dass du jemals wieder mein Gewicht kommentierst.” Und sie hat sich im Allgemeinen daran gehalten. […] Aber es war diese Art von, ich meine, wenn das positiv ist, dann ist es negativ wenn du zunimmst, oder? Es ist nicht einfach so… Du hast Wert unabhängig von deinem Gewicht. Es ist so, als hättest du deinen Wert verbessert. Und ich erinnere mich daran, wie sie zu mir gesagt hat, ich hätte zugenommen und dass ich fett sei, als so zwölf-, dreizehn-jährige. Aber wenn ich mir Fotos anschaue, dann denke ich, nein, ich war nur kein winziges, kleines Ding. Und jetzt ist es irgendwie bestürzend, weil ich, ich habe internalisiert, dass ich fett bin, als ich gar nicht fett war. Und dann bekommst du dieses Gefühl, dass du nie wirklich weißt was… Also nur, weil du dein Fleisch so zwischen zwei Fingern halten kannst, heißt das nicht, dass du fett bist, also, weißt du, wirklich übergewichtig.”

Das Label „fat“ wirkt ihrer Meinung nach oft identitätsbildend: „…es ist das Etikett, das du bekommst. Und… Es wird irgendwie wichtiger, als wer du bist. Als ob die Leute dich bewerten würden, bevor sie dich getroffen haben. Weil, oh, du bist dick, du musst also x, y, z sein. […] Ich glaube, es [das x, y, z] war sowas wie faul, und ein Mangel an Kontrolle, und… ähm, undiszipliniert. Ich meine, viel davon ist eine Stimme, die ich in meinem Kopf hatte, um zu versuchen, mich selbst davon abzuhalten, zu viel zu essen. Es ist so, du musst disziplinierter sein, du musst mehr das und das tun. Und es war immer eine sehr kritische, unfreundliche Stimme.”

Lynn beschrieb, wie die Bewertungen, die sie mit verschiedenen Ausprägungen von Körpergewicht verband, dazu beitrugen, dass sie allmählich eine Bulimie entwickelte: “Mit “thin” und “skinny” is’ da immer dieser Neid, weil es ist so, obwohl ich es verzweifelt versucht habe… Mittlerweile klingt das krank, aber ich erinnere mich daran, wie ich gebetet habe, magersüchtig zu werden. Weil ich einfach nicht aufhören konnte, mich zu überfressen [original: “to binge”]. Aber dann versuchte ich, tagsüber überhaupt nicht zu essen und dann fraß ich am Abend. Und… So geriet ich in einen Kreislauf aus ganz viel Essen und mich anschließend übergeben, den ich phasenweise mit Anfang zwanzig durchlief.”

Irgendwann empfand sie ihr Essverhalten und Körpergewicht dann als so problematisch, dass sie Overeaters Anonymus beitrat und sich selbst therapierte. So hat sich ihr Verhältnis zu ihrem Körper mit der Zeit verändert. “Und es ist mir egal ob ich nackt bin und die Bewertung der Leute ist mir jetzt nicht mehr so wichtig. […] Früher dagegen, war es immer so: “Oh, uff”, weißt du, da waren diese verhassten Stellen. Und da war eine Menge in den Spiegel schauen und reinpieken und stechen.”

Das Treffen mit Anastasia fand in einem ruhigen Büro an einem Sonntag statt.  Lilith bat sie, sich die Begriffssammlung anzusehen und ihre Assoziationen frei heraus aufzuschreiben. Ein Gespräch folgte.

„Thin“ war ein „jahrelanges Ziel“ für Anastasia gewesen, auch weil sie dann in gewisse Klamotten gepasst hat. Im Gespräch zeigt sich, welche Rolle dabei Ihre Mutter spielt: „Ich glaube, für mich war es wie ich groß geworden bin. Meine Mutter hat immer gesagt, wenn du nicht dünn bist, werden dir keine Klamotten mehr passen und so hatte ich mein ganzes Leben das Ziel, dünn zu bleiben. Ansonsten fühlte ich mich nie gut mit mir. […] Ja, ich glaube, dass sie [meine Mutter] durch mich “durch” lebt, sie will, dass ich die Kleider trage, von denen sie denkt, dass sie nicht gut in ihnen aussieht. Sie hat immer viel Druck auf mich ausgeübt, dass ich bestimmte Kleider trage, die sie aufgrund ihres Gewichts nicht mehr tragen kann.“

Doch die Bedeutung, die Körpergewicht und -form für Anastasia hatte, ging weit über die Frage hinaus, ob ihr bestimmte Kleidungsstücke passten: “Ich habe meinen Charakter immer danach beurteilt, wie ich aussehe. Wenn ich z.B. nicht dünn bin oder zugenommen habe, dachte ich, ich habe versagt oder so. Oder dass ich etwas falsch gemacht habe und mich dann selbst schlecht gemacht hab.”

Heute hat Anastasia ein anderes Verhältnis zu ihrem Körper: „Heute probiere ich, meinen Körper für andere Gründe zu mögen, z.B. habe ich an einem Programm teilgenommen, um zu sehen, ob ich meine Körperform mag oder nicht. Und wenn ich viel Sport oder Dinge, die einfach Spaß machen, mit meinem Körper mache, fühle ich mich glücklich, dass ich das alles mit meinem Körper machen kann, z.B Klettern oder Pole tanzen und ich fühle mich viel besser mit meinem Körper und bemerke, desto mehr ‚nette‘ Dinge ich mit meinem Körper mache, desto besser fühle ich mich mit ihm.“